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Sozialkontakt in der Pandemie

             In der ersten Welle der Pandemie war ich sehr ängstlich, so sehr, dass ich auf-
             hörte, meine Kinder zu umarmen und zu küssen, vor allem meinen jüngsten
             Sohn Carlos. Er ging und geht noch häufig aus, um sich mit Freunden zu tref-
             fen. Einmal sagte ich sogar zu ihm, dass er zu seinen Freunden ziehen solle,
             wenn für ihn seine Freunde wichtiger seien als unsere Gesundheit. Er nahm
             mich beim Wort, packte seine Sachen, zog zwei Tage zu einem Freund und
             dann zwei Tage zu seiner Freundin. Als er zurückkam, hörte er auf, jeden Tag
             auszugehen. Er geht inzwischen wieder aus, aber ich bin nicht mehr ängstlich,
             obwohl wir zurzeit in der dritten Welle sind.

             Wir hören oft, dass es besser ist, seine alten Eltern nicht zu besuchen, um eine
             Ansteckung zu vermeiden, weil sie zur Risikogruppe gehören, denn wenn sie
             infiziert werden, könnten sie sterben. Nach einigen Wochen der Isolation sagte
             die Mutter einer Freundin zu ihren Kindern, dass sie lieber sterben würde, als
             in der Isolation ohne Zärtlichkeiten, Umarmungen und Küsse ihrer Kinder
             und Enkelkinder zu leben. Eine Arbeitskollegin sagte mir dasselbe. Sie ver-
             misst ihre Enkelkinder und der physische Kontakt fehlt ihr sehr. Sie sagt, in
             Zukunft will sie den Kontakt zu ihren Kindern und Enkelkindern nicht mehr
             vermeiden.

             Eines der Dinge, die ich vermisse, ist der körperliche Kontakt. Ich komme aus
             Peru und wir haben die Gewohnheit, unseren Gesprächspartner beim Reden
             zu berühren oder zu umarmen. Sich zu berühren ist ein Zeichen der Zunei-
             gung. Wenn jemand vorgestellt wird, begrüßen wir ihn mit einem Kuss, viele
             Männer umarmen sich, wenn sie sich begrüßen und manchmal klopfen sie
             sich gegenseitig auf den Rücken. Dieser Körperkontakt ist wichtig für die
             Kommunikation und die sozialen Bindungen, er ist Teil unserer Kultur. Wenn
             wir heutzutage Freunde oder Nachbarn treffen, begrüßen wir sie auf japani-
             sche Art: wir verbeugen uns oder stoßen mit den Ellenbogen zusammen.
             Es fehlt mir bei den Besuchen meiner Freunde, sie küssen zu können. Ich will
             unsere Nachbarn, Bekannten, Freunde umarmen, wenn sie Geburtstag haben



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